michaelthurm

oktober

Ernst ist da. Und ich werde mich ihm widmen. Jetzt, wo mein Studium endlich vorbei ist, kann ich mich genau jenem Ernst widmen, auf den ich die letzten vier Jahre angeblich vorbereitet wurde. Wenn ich alle Lehranstalten zusammenzähle, zu deren Besuch ich gesellschaftlich verpflichtet war, sind es sogar 17 Jahre. Gut, nun habe ich nach diesen 17 Jahren gerade einmal einen ganzen Monat lang versucht den Ernst zu nehmen, wie er kommt, aber ganz schlau geworden bin ich nicht aus ihm. Wie auch, wenn Loriot ausgerechnet dann stirbt, wenn der Ernst beginnt? Dann starb auch noch Steve Jobs und zu all dem Ernst auch noch Gaddafi bzw. Gahdafi oder Qaddhafi, je nachdem welche PersÖnlichkeit unter den multiplen Uniformen man anspricht.
Aber jetzt ist alles anders. Ab heute bin ich so frei wie Libyen und Ägypten. Und das Lächeln der Politiker, mit dem sie die fremde Freiheit verkündet haben, erinnert mich an das Lächeln meines Lehranstaltschef, als er mir zu meinem Abschluss gratulierte.
Ernst und Freiheit sind also der Lohn für alle Anstrengungen. Denkste. Kaum hatte ich es geschafft, musste ich geloben und versprechen der Wissenschaft zu dienen, der Menschheit darüber hinaus auch noch bei ihren Problemen zu helfen und an der feierlichen Feier für die zu feiernden Absolventen teilzunehmen. Soviel Freiheit, soviel Ernst. Die libyschen Ãœbergangsregierer hingegen müssen jetzt neue Handelsverträge mit ihren noch neueren Freunden unterschreiben, damit weiterhin Öl und Waffen übers Mittelmeer gehandelt werden kÖnnen. Soviel Freiheit, soviel Ernst.
Die Sonne ballerte währenddessen nochmals ihre Strahlen auf die Erde, damit wir bloß nicht vergessen, was ein Sommer ist und dass sich Solarkraft vielleicht doch lohnen kÖnnte, um den Winter zu beheizen, der dann nur drei Tage später anfing. (Wetter ist immer wichtig, auch wenn man den Wetterbericht nicht schaut.)
Aber noch heizen wir lieber mit Geld. Wir heizen den Griechen ein, weil die sonst unser Wirtschaftswachstum nicht zahlen kÖnnen, wir aber auch noch die nächsten Jahre ohne Währungswechsel einen schÖnen Urlaub auf Kreta machen wollen. Oder in den Herbstferien nach Italien, denn da herrscht noch Recht, Gesetz und Vertrauen. Berlusconi wurde eben dieses mal wieder ausgesprochen, herzlichen Glückwunsch zum 51. Und auch Amanda Knox, diese euphemisierte Phantasie aller Gerichtsreporter mit Engelsaugen – oder so ähnlich, ihr wurde in Italien zwar nicht das Vertrauen, aber immerhin die Freiheit ausgesprochen, auch ne ernste Sache.
Italien ist mit soviel ausgesprochener Freiheit deutlich weiter als Deutschland, denn im dortigen Bundestag darf man zwar anderer Meinung als die Regierung sein, aber um sie auszusprechen, braucht man entweder die Bild Zeitung auf seiner Seite oder einen vernünftigen Bundestagspräsidenten wie Norbert Lammert. Dass sich dann ausgerechnet eine liberale Partei so schwer tut, dem Grundsatz der Diskussionsfreiheit (gibt’s den oder wünsch ich mir den gerade nur?) zu folgen, rechtfertigt ihre letzen Wahlergebnisse zumindest nachträglich.
Sebastian Vettel wird hingegen Weltmeister ohne Opposition und Widerspruch und lange vor Ende der Legislatur, aber bis er den Rekord von Helmut Kohl einstellt, dauert es noch ein paar Jahre. Oder war es Schuhmacher? Egal, mit einem Konzern voll roter Bullen im Rücken, der nach Fußball- und Eishockeyvereinen hoffentlich bald auch die Staatsgeschäfte irgendeines Landes übernimmt, geht halt vieles leichter.
Und besser.
Drei Frauen, die ich nicht kenne, müssen sich den Friedensnobelpreis teilen und ein alter Mann, den ich auch nicht kenne, bekommt den Litaraturnobelpreis. Solche Preise sind ganz wichtig. Sie setzen Akzente wenn es darum geht, Kompetenzen anzuerkennen und wenn ich demnächst ein Gedicht von Tomas TranstrÖmer lesen werde, wird dies immer vor dem Hintergedanken geschehen: Es gibt nichts Besseres. Bei Elfriede Jelinek hatten sie grÖßtenteils auch Recht, die Noblen und Preisenden.
Jelinek hat diesen Monat ihren Online-Roman „Neid“ auch als HÖrbuch verÖffentlicht, bzw. der Bayrische Rundfunk verÖffentlich ihn gerade kapitelweise und kostenlos. Das Problem bei Jelinek ist nur, dass ich ihre Bücher mag, wenn es Bücher sind, die ich in der Hand halten kann. Obwohl ich es natürlich verstehe, dass man sich aus diesem Verlagsgeschäft heraushält, wenn man es sich leisten kann. Man schreibt ja nur, um sich davon zu befreien. Und als Nobelpreisträger kann man sich das leisten. Man kann es sich auch leisten als Elfriede Jelinek keine Interviews mehr zu geben. Außer natürlich der Deutschen Welle. Sie werden hier also kein Interview mit Frau Jelinek finden, weil sie mir keines gibt. Was ich auch schon wieder verstehen kann, denn wenn ich nicht müsste, würde ich mir auch kein Interview geben. Ich kann das also alles verstehen und doch ist es im hÖchsten Maße ärgerlich.
Ärgerlich jenseits meiner Befindlichkeit ist, dass gerade ein Frachtschiff mit dem schÖnen Namen „Rena“ in Zeitlupe auseinanderbricht, ich glaube vor der australischen Küste. Leider gibt es keinen Livestream und so weiß ich nicht, wie es gerade aussieht. Es kann also sein, dass mein Text jeden Moment von einer Eilmeldung auf Spiegel-Online (für hippe Kids auch : SPON) über den Haufen geworfen wird. Dort las ich vor kurzem, auf der Suche nach neuen Live-Bildern, die aufregenden Geschichte eines Soldaten Namens Gilad Schalit. Leider stand nirgendwo, warum das so eine große Sache ist, wenn sich an der Gesamtsituation, die ja ohnehin kaum zu durchschauen ist, nichts ändert. Angeblich sind noch immer 7000 Palästinenser in Israel gefangen, ein Teil davon ohne vorherige Verhandlung. Dabei ist Palästina von der UNO, trotz inzwischen erfolgten Antrages, noch immer nicht anerkannt. Und wenn der Staat offiziell nicht existiert, kann es ja auch keine Palästinenser geben. Ich verstehe das, muss ich gestehen, nicht vollständig. Wie viele Bomben nun, von Terroristen abgeschossen, in Richtung Israel fliegen und wer da nun nicht ausreichend interveniert, dass bleibt mir unverständlich. Ich sehe nur, dass dort viel zu viel Ernst und viel zu wenig Freiheit herrscht.
Das Nachbarland Türkei hat nicht nur ebenso ernsthaft seine Kriegsmarine Richtung Zypern geschickt, sondern auch angebliche PKK-Stellungen im Irak bombardiert (nachdem die PKK 24 türkische Soldaten getÖtet hatte) – inzwischen ist es dort wohl wieder etwas friedlicher, aber ich weiß nicht, ob das nur wegen des Erdbebens ist, dass zuletzt das Hauptgebiet der türkischen Kurden zerstÖrt hat, oder wegen der deutschen Medien, die vor allem damit beschäftigt waren, irgendein Jubiläum einer ganzen Generation von türkischen Gastarbeitern und deren Integration zu feiern. Aber wir haben Medien und Presse und Freiheit und so sucht sich halt jeder seinen Ernst, was trotz aller Integration ein sehr deutscher Vorname bleibt.
Der Rettungsschirm, der derweil über den Euro-Staaten aufgespannt wird, ist alles andere als bombensicher. Und weil der aufgespannt werden muss, kann Nicolas Sarkozy nicht zu seiner Carla in den Kreissaal – that’s the news – eat it. Gaddafi konnte auch nicht kommen und gratulieren, der wurde ja kurz vorher verhaftet und zeitgleich erschossen, quasi als politisches Menschenopfer der neuen Verbündeten, die dem Freund der Revolution ihren Dank ausdrücken wollten. Wir wissen es nur noch nicht, weil Wikileaks nichts mehr verÖffentlichen kann, nachdem ihnen das Geld ausgeht.
Das Geld geht aber nicht nur Wikileaks aus, sondern uns allen. Deshalb wird jetzt mit jenen Finanzhebeln versucht, die Krise zu bekämpfen, die vor einem halben Jahr noch als ein Teil des Problems eingestuft wurden. Da fange ich glatt an der Sahra Wagenknecht, die wahrscheinlich gerade wegen ihrer ständigen Auftritte in den Talkshows des Öffentlich-rechtlichen Fernsehens inzwischen so eloquent und begeistert die aktuelle Situation analysiert, zuzustimmen. Zumindest wenn es darum geht, Unsinn als Unsinn zu bezeichnen.
In der Slowakei kostet die – trotz allen Unsinns wahrscheinlich sinnvolle – Zustimmung zum Rettungsschirm den Rücktritt der Regierungschefin; in Deutschland weiß keiner ob nun der Bundestag entscheiden muss oder nicht, aber zumindest in Österreich herrscht noch politische Durchschlagskraft auf der leger besetzen Regierungsbank. Wir haften, aber wir zahlen nicht. Das haben sich die Napfsülzen von Investitionsinvestierern auch gedacht, als sie mit ungedeckten Krediten um sich geworfen haben.
Und deshalb wird jetzt alles besetzt was gerade in der Nähe ist. Occupy – hieß es letzte Woche von den „we are the 99 Prozent“ – naja am Ende eben doch weniger Menschen, als beim Drittligaspiel von Kickers Offenbach. Und was heisst hier Woche? Ein Sonntag! Gut, dass ich da nicht mehr mitmachen muss. Ich habe mich immer nur Werktags empÖrt, meist war es Schultags; hin und wieder auch engagiert. Da gab es genügend Gründe. Aber am Sonntag will ich Wein trinken, ins Theater gehen und schÖnen Frauen hinterherschauen. Wenigstens am Sonntag.
Vor allem wenn die Erfolgschancen für die Wochenendbesetzer, die eben auch gern Wochenendhausbesitzer wären, so gering sind. Sobald irgendwo mehr als 30 Leute zusammen abhängen, stürzen sich die Massenmedien darauf und multiplizieren diese 30 Leute. Die Masse schwillt an, aber noch bevor sie etwas erreichen kann (und politische Entscheidungen dauern eher Monate als Wochen) sind die aufmerksamkeitsgenerierenden Medien bereits ermüdet. Die Berichterstattung lässt nach und das demoralisiert die mediengeile Meute und lässt sie zerfallen. Je grÖßer der Hype des Moments, den man auch Hupe des Moments nennen kÖnnte, um so schneller der Zerfall. So hab ich das bei Elias Canetti verstanden und der war auch mal gelobt und gepriesen mit dem Nobelpreis.
Der Österreichische Bundeskanzler macht da nicht mit und setzt lieber sieben Mitarbeiter via Facebook aufs Volk an (ach, es sind sogar neun). Das sind wahrscheinlich mehr als auf die Finanzkrise. Problematisch nur, dass ihm der Parteifreund und Verwandte im Geiste des Wohlgefallens, seine Exzellenz, der Bundespräsident der Republik Österreich die Show stiehlt, indem er aus einem Hubschrauber springt. Selbstverständlich mit Kamera. Und Fallschirm.
Hatte ich schon erwähnt, dass der Herbst sich breit macht? Ãœberall gelbes Laub vor grauen Wolken. Wenigstens ein Wetterbericht.

Ein Kommentar

    Danke. Wirklich viel Text für wenig Monat. Wenn ich das so lese, wünsche ich mir einen Jahresrückblick! Aber noch nicht jetzt, es ist ja schlieußlich erst Herbst.
    Nur die „Lehranstalten […], zu deren Besuch ich gesellschaftlich verpflichtet war, […]“ finde ich zu hart. Sonst wärst du ja nicht wer du bist.
    Gruuß nach Österreich.
    FOE

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