michaelthurm

Gottfried Haber im Fazitgespräch

Krisenerklärung

Herr Haber, die Fußball-EM hat gerade begonnen. Was ist für Sie schwerer vorhersehbar, der Verlauf des Fußballturniers oder die Entwicklung der sogenannten Eurokrise in dieser Zeit?
Für mich persönlich der Fußball, weil ich da nicht besonders kompetent bin und das nur aus der Ferne verfolge. Grundsätzlich glaube ich aber auch, dass sich Fußballergebnisse schwerer vorhersehen lassen. Da ist jedes Spiel ein Einzelereignis, die Bedingungen variieren immer ganz stark. In der Wirtschaft ist es nicht viel besser. Aber wir kennen zumindest gewisse Mechanismen und wir können aus der Vertrauenskrise, die wir im Moment erkennen, auf die Zukunft schließen.

Mir fiel auf, dass sich in beiden Disziplinen sehr gewinnträchtig wetten lässt und dass es in beiden Bereichen zahlreiche Experten gibt, die analysieren und Prognosen abgeben. Und in beiden Fällen liegen diese häufig daneben. Wieso ist da die Wirtschaft besser zu verstehen?

Wenn wir uns die Wettquoten anschauen, das ist ja eine große Parallele zu den Ratingagenturen, haben wir in der Wirtschaft sogar eine schlechtere Situation. Denn die Wettquoten im Fußball beeinflussen den Ausgang des Spiels nicht.

Im Normalfall …
Gottfried Haber
Wenn aber alle darauf wetten, dass die spanischen Banken vor dem Konkurs stehen, bekommen diese kein Geld mehr und stehen dann tatsächlich vor dem Konkurs. Diese selbsterfüllenden Prophezeiungen passieren in der Wirtschaft viel eher als im Sport.

Das spricht natürlich für die Vorhersehbarkeit der Wirtschaft. Aber gut ist das nicht.

Nein, aber so ist das System organisiert. Und ich denke, der Akteur, der am meisten tun kann und der die größte Verantwortung hat, ist der öffentliche Sektor. Wir haben aus meiner Sicht nämlich keine Eurokrise, die ihre Ursache in der gemeinsamen Währung hätte, ich sehe auch keine existenzielle Krise des Finanzsystems, sie äußert sich nur auf diesen Märkten. Wir haben eine Krise aufgrund zu hoher Schulden und dieses Problem ist seit zwanzig Jahren zu erkennen. Durch den Euro sind die Fehler unserer Systeme nur schneller sichtbar geworden.

Viele sehen die Immobilienblase in Amerika und jetzt jene in Spanien als Auslöser und Ursache dafür, dass die Verschuldung der Staaten überhaupt zum Problem wurde.

Genau, die amerikanische Immobilienkrise hat zu einer Finanzkrise geführt und diese wiederum zu einer Wirtschaftskrise, die wir auch hier in Europa zu spüren bekommen haben. Wir haben bei all diesen Spekulationen auch mitgespielt

Aber was heißt »wir in Europa«? Es waren doch hauptsächlich große Privatbanken, die sich an den Spekulationen beteiligt haben – auch wenn in vielen dieser Banken längst staatliches Geld geflossen ist.

Ja, klar. Der private Sektor ist immer involviert und bei einer Dimension wie jener, mit der wir es zu tun haben, eben auch die Staaten. Und diese haben in der Wirtschaftskrise genau das Richtige getan, nämlich in schlechten Zeiten die Wirtschaft zu unterstützen. Deshalb haben wir in Österreich auch sehr wenig von der schwersten Wirtschaftskrise aller Zeiten gespürt. Was aber aus so einer Unterstützung immer resultiert, ist ein Anwachsen der Schulden bis hin zur Schuldenkrise. Denn irgendwo muss der Staat ja das Material herbekommen, mit dem er die Delle der Konjunktur ausgleicht.

Das Material in diesem Fall ist Geld …

Geld und Wirtschaftsleistung. Die Theorie sagt: Spare in guten Zeiten und nutze das Gesparte, um es in schlechten Zeiten zu investieren. Das ist allerdings nirgendwo passiert und wir haben auf Pump investiert. Die Schuldenkrise ist also vorhersehbar, wenn man so will notwendig, weil wir die Konjunktur nicht aus dem Nichts heraus stützen können, sondern dafür Geld brauchen.

Besteht über diese Theorie des deficit spending, die auf John Maynard Keynes zurückgeht, Einigkeit unter den Wirtschaftsforschern?

Die meisten Ökonomen, die sich mit Wirtschaftspolitik befassen, sind bei den zentralen Positionen nicht so weit auseinander. Dass Wirtschaft gewisse Freiheiten zur Entfaltung braucht, ist allgemein anerkannt. Sie werden keinen ernsthaften Ökonomen finden, der für eine zentral gelenkte Planwirtschaft plädiert, ebenso wenig werden Sie einen Ökonomen finden, der für eine vollkommen unregulierte Marktwirtschaft eintritt.

Aber im Detail, zum Beispiel bei der Bewertung des Fiskalpakts, gehen die Meinungen schon weiter auseinander.

Die Frage ist immer, wie man den Konsens, der momentan wohl am ehesten in der ökosozialen Marktwirtschaft besteht, am besten umsetzt und wie viel staatlicher und politischer Einfluss in den einzelnen Bereichen vorhanden sein soll.

Momentan scheint sich das im Schlagwort »Wachstum« zu konzentrieren.

Nicht einmal da sind sich die Wirtschaftswissenschaftler einig. Einige, dazu gehöre auch ich, sind der Meinung, dass der Wachstumseifer der letzten Jahre, das Wirtschaften auf Pump, auch ein Grund dafür ist, dass wir in der Krise sind. Wir hatten in guten Zeiten ein massives Wirtschaftswachstum bei gleichzeitigem Anstieg der Schulden. Das war immer ein Vorgriff auf die Zukunft, um im Heute schon mehr zu wachsen. Wir werden uns damit abfinden müssen, dass wir nur ganz niedrige Wachstumsraten haben werden, ich denke zwischen null und einem Prozent.

Die Prognose der Österreichischen Nationalbank von Anfang Juni, die ein Wachstum für die nächsten Jahre von jeweils rund zwei Prozent erwartet, ist also schon wieder ein Alarmsignal?

Wir haben in Österreich das Glück, dass es uns besser geht als dem Durchschnitt der Euroländer. Trotzdem werden auch bei uns solche Wachstumsraten künftig nicht möglich sein, wenn wir nachhaltiges Wachstum wollen. Das heißt ja nicht, dass es nicht manchmal bessere und mal schlechtere Jahre gibt, aber das reine Produktionswachstum kann nicht so weit über dem technologischen Wachstum sein.

Der Chef des Wirtschaftsforschungsinstitutes Karl Aiginger hat mehrfach behauptet, dass wir ein Wachstum von mindestens zwei Prozent brauchen, um die Arbeitslosigkeit stabil zu halten.

Das ist eine sehr theoretische Frage. Ob tatsächlich ein stabiler Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit besteht, hängt davon ab, ob die Nachfrage der limitierende Faktor ist. Wenn aber Angebotsschocks vorherrschen, dann ist dieser Zusammenhang nicht als stabil zu erkennen. Ich würde mich nicht darauf verlassen – im positiven wie im negativen Sinn.

Wie gering darf das Wachstum ausfallen? Es gibt ja auch einige Vertreter der Nullwachstums-These. Demnach müssen wir unsere Systeme sogar so einrichten, dass sie ohne Wachstum funktionieren.

Ich bin schon der Meinung, dass ein solides und nachhaltiges Wachstum einfacher ist, weil man dann etwas hat, was man verteilen kann. Nur dann kann ein Staat auch für Verteilungsgerechtigkeit sorgen. Und das wird es immer geben müssen und das kann es auch geben. Auf der einen Seite dank des technologischen Fortschritts, auf der anderen Seite durch die wachsende Weltbevölkerung. Aber alles, was in der Vergangenheit über einem Prozent lag, war hauptsächlich kreditfinanziert und das fällt uns aktuell auf die Füße.

Aber in den letzten sechzig Jahren ging diese politische Verteilungsfreude eindeutig übers Ziel hinaus. Wäre die Grundannahme ausbleibenden Wachstums nicht besser für das nachhaltige öffentliche Haushalten?

Das glaube ich nicht. Das Problem ist das Auseinanderklaffen von Wachstum und öffentlichen Ausgaben. Ob sich der öffentliche Sektor bei weniger Wachstum selbst eingeschränkt hätte, bezweifle ich. Es wurde immer geglaubt, dass sich ein Staat unbegrenzt verschulden kann. Deshalb haben Finanzmärkte und Ratingagenturen diese Schulden auch mit Bestnoten versehen und sie relativ billig gemacht.

Da schließt sich die gesellschaftlich wohl entscheidende Frage an, ob wir mit einem Wirtschaftswachstum von rund einem Prozent unseren Sozialstaat noch finanzieren können.

Die Gegenfrage ist: Was bringt es uns, um jeden Preis an Wachstum zu glauben, wenn der Sozialstaat in seiner Verteilungswirkung und in seiner Bilanz nicht finanzierbar ist? Ist es nicht wichtiger einzusehen, dass Wachstum eben beschränkt sein wird und alle Fragen, die sich daraus ergeben, bis hin zur Gestaltung des Pensionssystems, einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden müssen?

Und Ihre Antwort?

Ich plädiere immer für eine Trennung von Steuersystem und Sozialversicherung. Also auch die Pension müsste wie eine Versicherung gestaltet sein und dort, wo das zu sozialen Unausgewogenheiten führt, müsste dann transparent umverteilt werden. Aber eben nicht zwischen den Systemen.

Also nicht mit der Einkommenssteuer die Rente finanzieren?

Genau. Solange wir ein Versicherungsprinzip einhalten, ist es im Prinzip auch egal, ob mein eingezahltes Geld für mich angespart wird oder ob die aktuell aktiven Beitragszahler für die Pensionisten zahlen. Im Moment haben wir aber das wesentliche Problem, dass überall in Europa mehr ausgeschüttet wird, als die Versicherten eingezahlt haben.

Und auch das ist ein demografisches Problem. Wäre das von Ihnen angedachte Versicherungssystem da besser?

Ja, weil jeder nur so viel ausgeschüttet bekommen würde, wie er einzahlt. Alles andere ist nur eine Frage der Liquidität: Das Geld, das eingezahlt wurde, muss auch verfügbar gehalten werden.
Die Transferzahlungen zwischen den Sozial- und Steuersystemen sind zu teuer geworden und gehen am Ende nicht mehr auf. Weil permanent ein Vorgriff auf die Wirtschaftsleistung der Zukunft erfolgt. Die Gegenleistung der heutigen Pensionen in ganz Europa wurde noch nicht erbracht und angespart. Aber wir tun einfach so, als würde sie kommen, auch wenn wir wissen, dass immer weniger junge Menschen da sind, die in das System einzahlen.

Haben die Chinesen da einen Vorteil, weil sie ohne Rücksicht auf die Demokratie viel effizientere Systeme gestalten können?

Ich glaube schon, dass die Demokratie ein wesentlicher Grundpfeiler für eine funktionierende Wirtschaft ist. Das ändert aber nichts daran, dass wir auch in der Demokratie offen sagen müssen, dass die Systeme so nicht weiter funktionieren werden. Wir können natürlich so tun, als wäre der Euro daran schuld, dass den spanischen Banken Geld fehlt. Aber wenn wir immer mehr ausgeben, als wir kurzfristig einnehmen, und nur darauf hoffen, dass die nachfolgende Generation das alles erwirtschaften wird, funktioniert das nicht.

Aber warum hat ein Staat wie Spanien mit einer absoluten Verschuldung von 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) mehr Probleme als Deutschland oder Großbritannien mit jeweils über 80 Prozent Verschuldung? Oder nehmen wir das Extrembeispiel Japan, wo die Staatsverschuldung bereits doppelt so hoch ist wie das BIP.

Das ist ökonomisch tatsächlich schwer zu erklären. Aber es liegt daran, dass diesen Ländern noch immer vertraut wird und wir, wir alle, diesen Ländern noch immer Geld borgen. Das Problem sind ja nicht irgendwelche komischen Finanzmärkte. Das Problem sind wir, die kein Vertrauen mehr haben, dass zum Beispiel die Spanier ihre Probleme in den Griff bekommen.
Gottfried Haber
Aber das sind doch nicht wir drei hier am Tisch …

Doch!

Also ich hab nichts zu veranlagen.

Ich auch nicht, aber sei es nur eine private Pensionsvorsorge: Wir werden nicht jene wählen, die in griechische, spanische oder irische Staatsanleihen investiert.

Aber diese Entscheidung trifft doch im Normalfall der Banker bzw. der dortige Fondsmanager. Als Kunde oder Angestellter am Schalter ist man in solche Entscheidungen kaum eingebunden.

Aber die Banken bieten an, was nachgefragt wird. Und die wissen, dass sie uns nicht einmal mehr mit sechs oder sieben Prozent Rendite locken, wenn das Geld dafür in spanische Staatsanleihen investiert wird. Gerade diese Woche haben die Spanier um mehr als sechs Prozent Staatsanleihen emittiert. Das ist an sich ein Geschenk für Anleger, wenn sie überzeugt sind, dass sie ihr Geld zurückbekommen. Stattdessen investieren viele kleine Anleger lieber in deutsche Bundesanleihen, die mit 1,4 Prozent unter der Inflationsrate verzinst sind.

Sie haben die Ratingagenturen und deren Fehler angesprochen. Was haben eigentlich die Wirtschaftswissenschaftler aus den letzten Jahren gelernt?

Wir sind noch dabei zu lernen. Ich denke, es ist noch nicht ganz angekommen, dass wir im Kern ein Liquiditäts- und Vertrauensproblem haben und dass dies tatsächlich die tragenden Elemente unserer Wirtschaftssysteme betrifft. Vor allem die Ökonomen in den USA sagen noch immer, dass die Europäer Geld drucken sollen und damit die Probleme lösen müssten. Aber durch das Drucken von Geld wird keine Wirtschaftsleistung erbracht. Die gleichen Ökonomen kritisieren auch, dass wir Voodoo-Ökonomie betreiben, weil wir die Banken mit staatlichem Geld retten und dann hoffen, dass die Banken wiederum den Staat finanzieren. Diese Kritik stimmt allerdings. Aber wenn man das schon verstanden hat, muss man doch erkennen, dass es nichts bringt Geld zu drucken.

Für einige ist Inflation eine clevere Lösung, um Verschuldung zu reduzieren.

Das stimmt insofern, als dass dadurch die Gegenleistung für die Schulden reduziert wird. Aber sie verringert auch das Vermögen, vor allem das Geldvermögen.

Was eine Reichensteuer kann, kann die Inflation schon lange?

Das stimmt schon, aber ob das treffsicher ist, wenn es um die Verteilung von arm und reich geht, bezweifle ich. Wir merken zwar die Preissteigerung, aber wir merken nicht, wie sehr diese durchs Gelddrucken angeheizt wurde. Es mag sein, dass die Inflation der politisch einfachere Weg ist, aber ich halte sie für den schlechteren, weil die Verteilungswirkung intransparent ist und wenn man aktiv umverteilen will, dann hat man dafür ein Steuersystem. Weil man sich aber scheut, darüber eine Diskussion zu führen, will man lieber die Notenpresse anwerfen. Die USA machen das ganz massiv und drucken jede Menge Geld.

Warum wird das in Europa bis jetzt nicht gemacht?

Wenn wir uns das Wachstum der Geldmenge »M3« anschauen, also der Summe von Bargeld, Sicht-, Spar- und Termineinlagen, dann hatten wir dort sogar ein stärkeres Wachstum als die Amerikaner.

Das lag aber nicht daran, dass die Europäische Zentralbank (EZB) so viel Geld gedruckt hätte?

Das gedruckte Geld und die Zinspolitik spielen schon eine große Rolle. Ebenso wie die Kreditvergabe der Banken, die von Regelwerken wie Basel II und Basel III beeinflusst werden. Wir hatten in guten Zeiten Kreditwachstumsraten von 15 Prozent pro Jahr und selbst in der sogenannten Kreditklemme ist das Volumen der jährlich aufgenommenen Kredite kaum zurückgegangen. Und wenn das BIP-Wachstum gerade einmal zwei Prozent beträgt, ist das eine Differenz, die vor allem in einer Inflation spürbar wird. Also hat auch die Verschuldung selbst ihren Beitrag zur Inflation geleistet.

Warum ist diese dann trotzdem im Rahmen geblieben, wir lagen ja immer im Bereich von zwei Prozent Inflation?

Weil das Geld zum Teil wieder zurückgegangen ist, also niemals physisch am Markt war.

Oder haben wir nicht das Problem, dass der Warenkorb, mit dem die Inflation gemessen wird, sehr ungenau ist?

Eigentlich nicht. Die gefühlte Inflation ist sicher höher, weil wir schneller steigende Preise bei den Dingen des täglichen Lebens haben. Aber dafür sind Anschaffungen wie Autos oder Fernseher erheblich billiger geworden. Das spürt man halt nicht jeden Tag. Üblicherweise ist die tatsächliche Inflationsrate sogar etwas niedriger als die offizielle, weil der Warenkorb in der Regel fünf Jahre lang gilt. In diesen fünf Jahren gibt es eine Qualitätsentwicklung bei den Produkten, die nicht eingerechnet wird, aber so wird halt statistischer Preisanstieg suggeriert, den es nicht gibt.

Wie könnte man die Inflation begrenzen, falls diese doch noch kommen sollte?
Grundsätzlich wird das gemacht, indem die EZB Geld aus dem System herausnimmt. Das ist im Moment schwierig, weil einige wichtige Banken in Europa dafür nicht liquide genug sind und Basel III eine zusätzliche Belastung für diese Banken darstellt. Momentan sind die Banken bei der Kreditvergabe auch sehr zurückhaltend – so bleibt das Geld innerhalb des Finanzsystems. Zur Inflation könnte es aber kommen, wenn die Wirtschaft wieder wächst und mehr Kredite, also Geld nachfragt, das dann plötzlich in Umlauf kommt.

Sind die aktuellen politischen Maßnahmen zur Krisenbewältigung, also die Versuche eine Banken- und Fiskalunion zu errichten, aus ihrer Sicht sinnvoll?

Ich glaube, das kann durchaus etwas bringen. Allerdings ist das vor dem Hintergrund der aktuellen Euro- und Europaskepsis nicht so einfach. Alle halten Griechenland für ein Fass ohne Boden und das ist für ein weiteres Zusammenrücken natürlich nicht förderlich. Da spielt es auch keine Rolle, dass Griechenland im Grunde kein Problem mehr ist, weil es mit den Geldern der ersten beiden Finanzhilfen finanziert ist. Das kann schon der Startschuss für eine Fiskalunion sein und die Diskussion darüber zeigt, dass man langsam das Problem erkannt hat.

Bedeutet eine solche Fiskalunion dann auch tatsächlich die Entmachtung der Nationalstaaten?

Wohl schon. Denn die ersten beiden Wege haben ja nicht funktioniert. Die Staaten haben sich selbst nicht an ihre eigenen Vorgaben gehalten und die Kontrolle durch die EU, so wie in Griechenland, funktioniert auch nicht, ohne dass es massive politische Probleme gibt. Die Fiskalunion bedeutet, dass auf europäischer Ebene ein ausgeglichenes Budget erzwungen wird. Es muss darum gehen, verbindliche Spielregeln zur Stabilisierung der Staatsfinanzen zu definieren – nicht darum, dass die EU bis auf Ebene der Gemeinden jede einzelne Budgetposition genehmigen muss.

Wie kommen Sie als Wirtschaftswissenschaftler eigentlich zu all Ihren Analysen und Thesen? Wir Journalisten zitieren ja meist nur mit Berufung auf akademische Titel und Zitierfähigkeit.
Die meisten Ökonomen arbeiten mit mathematischen Modellen und mit diesen werden Simulationen und Berechnungen durchgeführt. Und dann können einzelne Partialanalysen gemacht werden, mit denen wir zu erkennen versuchen, wie zum Beispiel Wechselkurs und Wirtschaftswachstum zusammenhängen. Gerade jetzt
lernen wir auch viel aus der Vergangenheit. Die Iren haben in den 80er-Jahren ihr Budget zum Beispiel über Steuererhöhungen konsolidiert – ein paar Jahre später ging es ihnen schlechter als vorher. Ende der 80er-Jahre haben sie dann ihre Ausgaben reformiert und bis 2008 war die irische Entwicklung eine Erfolgsstory. Daraus versuchen wir dann Schlüsse zu ziehen.

Wie wichtig und zuverlässig sind statistische Daten?

Die sind sehr wichtig, aber wir haben immer das Problem, dass die Daten hinterherhinken und ungenau sind. Wenn man ehrlich ist, können wir nicht einmal unterscheiden, ob wir ein leichtes Schrumpfen oder ein leichtes Wachsen der Wirtschaft haben. Ich glaube nicht, dass ein Ökonom seriös sagen kann, ob das BIP nun »wirklich« um 0,1 Prozent schrumpft oder um 0,2 Prozent steigt.

Wie kommt es dazu, dass die Schlüsse aus diesen Vorgaben so unterschiedlich sind?
Weil die Wirtschaft extrem komplex ist und noch dazu von Menschen und Erwartungen geprägt wird. Jeder Einflussfaktor führt zu einer Vielzahl von Effekten und häufig ist die ausschlaggebende Frage, welcher Effekt überwiegt.

Und das zu bewerten ist eine Frage der Haltung und Ideologie?

Im Normalfall sollte das unabhängig davon sein. Wissenschaft lebt ja davon, dass der Standpunkt eben nicht den Blickwinkel bestimmt.

Herr Haber, vielen Dank für das Gespräch.