michaelthurm

Fazitgespräch mit Max Otte

Max Otte ist ohne Zweifel das, was man »umtriebig« nennen kann. Seit seiner Vorhersage der Finanzkrise ist er beliebter Gast in Talkshows, gern eingeladener Redner für Vorträge und gefragter Marktkenner. Dass er dabei gleichzeitig als Akteur auf den Finanzmärkten und als Experte auftritt, stört dabei ebenso wenig wie die Unmöglichkeit, Otte in eines der gängigen politischen Lager einzuordnen. Im Interview sprechen wir über seinen theoretischen Hintergrund und seine Sicht auf die Krise nach dem Crash.

Das Gespräch führte ich für Fazit mit Johannes Tandl.
Die Fotos sind von Marija Kanizaj

Max Otte – Foto: Marija Kanizaj

Der Pendler

Herr Otte, die Eurokrise scheint im Moment etwas an Brisanz zu verlieren, dafür haben wir eine Budgetkrise in den USA, die sogar zum »Shutdown« – also der Schließung aller öffentlichen Einrichtungen – geführt hat. Welche der beiden Krisen ist gefährlicher für die Weltwirtschaft?
Das ist ganz klar die Budgetkrise. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.

Das überrascht mich jetzt.

Bei beiden handelt es sich vor allem um politische Krisen und weniger um Wirtschaftskrisen. Die eine besteht im Konstruktionsmangel des Euro, die andere in der zunehmenden Radikalisierung der US-Politik.

Aber lässt sich die Budgetkrise nicht leichter und schneller beheben? Die Eurokrise ist ja nicht mehr allein mit dem Beschluss einer Regierung zu lösen.

Das nicht, die Eurokrise ist eine Schwäche der europäischen Politik. Sowohl der heutigen als auch jener, die damals den Euro konstruiert hat. Die amerikanische Politik ist in gewisser Weise auch schwach, aber es ist vor allem eine ideologische Krise zwischen den verhärteten Fronten. Und ideologische Kämpfe sind immer schwieriger als rationale. Vielleicht wird das für den Moment noch einmal mit einem faulen Kompromiss behoben, aber wir haben eine tiefe Spaltung in Amerika. Präsident Obama hat eine rote Linie gezogen und ich meine zu Recht: Man muss sich mal überlegen, wie durchgeknallt antihuman Teile der Republikaner sind. Es geht darum, jedem Amerikaner das Recht auf eine Krankenversicherung zuzugestehen. Das wurde schon 2010 beschlossen, mit vielen Kompromissen, die Obama gemacht hat, mit Prüfung des Verfassungsgerichts und so weiter.

Wir haben mit diesem Thema begonnen, weil Sie seit 2005 auch US-Bürger sind. Wie kam es eigentlich dazu?

Ich wollte als Jugendlicher immer amerikanischer Außenminister werden! Das Projekt hat sich nur etwas verzögert.

Sie sagen das ohne Ironie.

Naja, der Außenminister wird inzwischen etwas schwierig. Aber die Staatsbürgerschaft war quasi der metaphysische Abschluss eines Lebensprojektes. Ich bin viel zwischen Amerika und Deutschland gependelt, habe dann meine Dissertation in Princeton geschrieben, bin später noch an die Universität in Boston gegangen, eigentlich war ich da schon wieder mental und emotional in Europa gelandet. Aber damals hat hier die Impotenz regiert und ich wollte in Amerika politisch mitgestalten, ganz ohne Ironie. Wenn Sie einen guten Uni-Abschluss haben, kann das ja relativ schnell gehen.

Vielleicht hätte das mit einer Hollywood-Karriere à la Arnold Schwarzenegger besser funktioniert.

Der Schwarzenegger hat mich auch fasziniert. Ich hab sogar mal ein Fitnessbuch geschrieben, weil ich selber fit werden wollte. Naja, zumindest Joschka Fischer hat es gelesen und ist dann seinen Marathon gerannt. Irgendwann hab ich als Kind ein Foto von Schwarzenegger gesehen, später dann im Kino in Barcelona, das muss 1985 gewesen sein, den Terminator. Das hat tatsächlich zu der Erkenntnis geführt, dass man mit Dissertation, Professorenstelle und dem ganzen Beamtenapparat nicht auf dem richtigen Weg an die Spitze ist. Dafür muss man finanziell unabhängig sein und auch diese mediale Offenheit ist nicht zu vergessen. Das hat mich der Schwarzenegger gelehrt.

Zurück zur Budgetkrise: Könnten die Europäer nicht viel von dem republikanischen Anspruch an einen ausgeglichenen Haushalt lernen – also Ausgaben erst zu beschließen, wenn die Finanzierung geklärt ist?

Das klingt gut, ist aber verwickelter. Die Krisen, die wir haben, sind primär Einnahmenkrisen. Wir haben permanent die Steuerbasis verwässert und aufgeweicht. Die Superreichen zahlen »nix« mehr, die Unternehmen zahlen lächerlich wenig. Steuern sind der Preis für ein harmonisches Gemeinwesen. Wenn Obama nun bei den sozialen Grundrechten ansetzt und dafür nachhaltig die Steuern erhöhen will, dann ist das nachvollziehbar. Die Idee, dass ich allein durch Steuersenkungen die Wirtschaft ankurbeln kann, ist ein völliger Irrglaube. Ein sinnloses Dogma. Wenn ich keine ausgebildete Bevölkerung habe, keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft, geht das alles nicht.

Sie sind also schon ein Anhänger des europäischen Sozialstaats?

Das hat mich mit 23 in gewisser Weise auch zurück nach Europa gebracht. Ich bin dann eine Zeit lang gependelt. Da kann man fragen, was Henne oder Ei ist, aber ich stand eine Weile auf der Kippe und habe mich schließlich meiner Wurzeln besonnen.

Das klingt nach einer emotionalen und nicht nach einer intellektuellen Präferenz.

Das kann man sagen.

Ich dachte, als Wirtschaftsforscher interessiert Sie vor allem, wie solche Systeme rational funktionieren.

Nein. Die Börse und die Kapitalmärkte sind doch nicht rational. Wenn ich mit Kollegen diskutiere, sind das hauptsächlich Historiker, Betriebswirte, Soziologen und Politologen. Die echten Volkswirte meiden mich, weil da auch kein Dialog zustande kommt. Die Hardcore-Modell-Ökonomie ist nicht unbedingt meines. Wenn Sie sich die Geschichte und die Finanzmärkte anschauen, dann werden Sie sehen, dass die hochemotional sind und in jede Richtung verrückt spielen können. Das ist in der verhaltenswissenschaftlichen Finanzforschung längst bekannt und nur noch nicht bei den Scholastikern der Volkswirtschaft angekommen. Da gilt der alte Spruch: »In der Praxis mag das gut sein, in der Theorie wird das nie funktionieren.«

Der Wirtschaftsnobelpreis wurde diesmal an drei Forscher vergeben, die sich ähnlich wie Sie mit Börsen und Krisenprognosen befassen.

Wer war das? Ich war die ganze Zeit unterwegs und hab es gar nicht mitbekommen.

Unter anderem Robert Shiller, der Mitentwickler des Immobilienindex.

Shiller? Das wundert mich. Der wird von den meisten Hardcore-Ökonomen nämlich belächelt, weil er keine echte Theorie macht. Aber ich finde es toll, dass das Nobelpreiskomitee den Mut dazu hatte. Shiller ist nämlich ein gutes Gegenmodell zu den bisher so oft belohnten Theoretikern.
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Die Arbeitsweise verschiedener Ökonomen unterscheidet sich im Detail deutlich. Wie kommen Sie zu Ihren Theorien, wie arbeiten Sie?

Ich habe schon ein Theoriegebäude, auch wenn 90 Prozent meiner Kollegen das nicht so sehen würden. Ich glaube, dass Märkte und Wirtschaftsstrukturen im Kopf stattfinden und es da keine Naturgesetze gibt. Ich schöpfe viel aus der Wirtschaftsgeschichte, der Philosophie und Soziologie.

Sie arbeiten also viel mit Literatur und forschen nicht selbst?

Manchmal arbeite ich schon sehr empirisch, aber grundsätzlich haben Sie recht. Mir geht es vor allem um Mustererkennung. Das kausale Modell ist mir gar nicht so wichtig, weil das zwar auf dem Papier stimmt, aber in der Realität immer ein, zwei Voraussetzungen anders sind. Ich halte mich deshalb gern an Ablaufschemata. Wenn Sie daran denken, dass die Standardliteratur der Ökonomie fast noch nie das Thema Krisen behandelt hat … Da gilt immer die Grundannahme, dass die Märkte zum Gleichgewicht tendieren. Schon in dieser Annahme unterscheide ich mich. Dieser Glaube ist eine Ersatzreligion. Warum sollen Märkte zum Gleichgewicht tendieren? Die Mehrheit der Ökonomen sind für mich Priester, die die jetzigen Herrschaftsverhältnisse legitimieren.

Ist das auch heute noch so? Ich habe den Eindruck, dass die praktischen Wirtschaftsforscher schon Konjunktur haben.

Nein. Es sehen sich vielleicht nicht alle in der Selbstreflexion als Scholastiker, aber sie müssen nur an die Universitäten schauen. Da wird die ersten vier Semester Mikro- und Makroökonomie gelehrt und sonst viel gerechnet. Wenn man das zwei Jahre macht, ist der Nachwuchs verdorben. Es braucht erst mal Ideengeschichte, Philosophie und Wirtschaftsgeschichte, um das Spektrum menschlichen Verhaltens zu kennen. Aber das kommt in der Theorie alles nicht vor, weil das sogenannte »solide Grundwissen«, also Formeln und Modelle, für wichtiger gehalten wird. Alles andere wird ans Ende des Doktoratsstudiums verschoben. Auch über politische Macht wird kaum gesprochen …

Man hört bei Ihnen schon das Bedürfnis nach einem starken Staat heraus, gleichzeitig sind Sie weit weg von jedem Marxismus. Märkte ja, aber die brauchen strenge Regeln?

Genau. Aber wer macht denn die Regeln, wie kommen sie zustande? Das ist die entscheidende Frage. Wenn die Gesetzgebung gekauft wird, und sei es indirekt über irgendwelche Konferenzen oder Spenden, dann ist klar, wo die Macht liegt. Das sind die großen Branchenlobbys und die Großkonzerne. Bei einer Diskussion hier in Graz hat ein Kollege mal festgestellt: »Wir wissen inzwischen sehr gut, wie sich Regeln auf den Märkten auswirken, aber wir wissen nicht, wie Regeln entstehen.« Dazu kommt diese libertäre Verhöhnung des klassischen Staatsdieners. Die finde ich zum Kotzen. Es gibt viele Menschen, die ihr Leben für ein auskömmliches Einkommen der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Ärzte, Beamte, Lehrer … Bei denen ist nicht die Bereicherung das Ziel, sondern irgendetwas zur Gemeinsamkeit beizutragen. Das ist doch ein wesentlicher Bestandteil unserer Ökonomie! Und den dafür notwendigen Ethos, den müssten wir wieder beleben.

Auch das lässt sich nicht verordnen. Dafür bräuchte es doch ein vertrauenerweckendes politisches System. Also eines, wo der Einzelne sagt: Dieser Staat schützt mich, meine Familie und mein Eigentum. Auf diesen Staat – nicht nur auf das Land – bin ich stolz. Das ist ja genau das, was verloren geht. Sowohl Politik als auch Wirtschaft verlieren kontinuierlich Vertrauen.

Richtig, wir sind in einer Abwärtsspirale.

Wie drehen wir die Richtung wieder um?

Muss ich Ihnen da Lösungen liefern?

Schon. Könnte die Europäische Union diese Rolle einnehmen?

Ach, ein machtloses, in sich zerstrittenes, hochkomplexes Gebilde. Der Traum unserer Gründerväter von den Vereinigten Staaten von Europa, das wäre es natürlich. Aber da sind wir heute kaum weiter als 1952.

Ist die EU noch sanierbar?

Dafür fehlt das einigende Moment.

Ist die Krise dafür noch nicht tiefgreifend genug, noch nicht alltäglich spürbar? Mit Ausnahme der südeuropäischen Länder geht es uns verdammt gut.

Das ist sicherlich so. Es ist wirklich schlimm, was da unter dem Deckmantel, Europa und die EU zu retten, passiert. Fünfzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit in manchen Peripheriestaaten. Das kann es doch nicht sein. Und die großen Vermögen sind freigestellt.

Sehen Sie diese als greifbar? Viele konservative Politiker fürchten, dass die Vermögen dann sofort in Steueroasen abwandern.

Das ist doch alles eine Frage der Gesetzgebung und des politischen Willens. Wenn so ein paar Kernstaaten wie Frankreich und Deutschland anfangen und als eine Koalition der Willigen vorangehen würden, dann wäre das ein erster vernünftiger Ansatzpunkt.

Glauben Sie, dass wir auch in Zentraleuropa noch den Preis für unsere ebenfalls hohen Schulden und die viel zu positive Handelsbilanz bezahlen müssen? Wird es bei uns auch noch mehr Arbeitslose geben, steigt die Inflation?

Tja, wenn man das wüsste. Wir zahlen auf jeden Fall den Preis über die Inflation …

Die lag aber auch zuletzt immer bei etwa zwei Prozent.

Nein, die echte Inflation ist bei vier bis fünf Prozent bei Lebensmitteln, Energie, Gesundheit. Also das, was bei kleinen Sparern eine Rolle spielt. Wir reden dort über ein Prozent Guthabenzinsen und vier Prozent Inflation, macht im Jahr minus drei Prozent. Rechnen Sie das mal auf zehn Jahre hoch! Die zwei Prozent Geldinflation, von der Sie sprechen, sind sehr schön dahingebastelt. Wenn ein Computer die Rechenleistung verdoppelt und der Preis stabil bleibt, wird das statistisch so gewertet, als ob sich der Preis halbiert hätte. Sie brauchen aber trotzdem den ganzen Computer. Die Sparer werden schleichend enteignet und damit zahlen diese und die Lebensversicherten den Preis für die Krise.

Trifft das tatsächlich nur die berühmten kleinen Sparer oder auch die großen Vermögen?

Geldvermögen ist in Europa hauptsächlich eine Sache der Mittelschicht. Das große Vermögen steckt in Aktien, Immobilien und allen möglichen Anlageformen.

Sehen Sie die Inflation nicht auch als Ausweg aus der Schuldenkrise?

Na klar. Muss sie ja sein, und das wird von den politischen Spitzen sicherlich gern in Kauf genommen.

Ist der Euro für die Sparer dabei eher eine Hilfe, dass es nicht ganz so schlimm wird, oder verstärkt er diese Effekte noch?

Die Gesamteffekte sind sicher negativ. Normalerweise müssen die Mitteleuropäer inflationieren und je südlicher die Länder liegen, desto eher müsste deflationiert werden. Die brutale Lohndrückerei die nun im Süden erfolgt, ist ein Problem, das durch die Einführung des Euro noch größer geworden ist. Zuerst sind die Löhne und Gehälter um 50 Prozent gestiegen, damit waren diese Länder nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Eurokrise ist ja keine Währungskrise, sondern eine innereuropäische Krise der Zahlungsbilanz. Der Süden importiert mehr von Mitteleuropa als umgekehrt und das muss behoben oder ausgeglichen werden, in jedem Fall muss es finanziert werden. Das passiert im Moment auf Kosten der Sparer hier und auf Kosten der Arbeitnehmer im Süden.

Für Sie ist die Eurorettung demnach nicht alternativlos. Wäre es besser, den Euro zu zerschlagen?

Zerschlagen will ich nicht sagen, aber es wäre besser gewesen, die Griechen draußen zu lassen. Sie müssen immer aufpassen, dass Sie da nicht die Rhetorik der Spitzenpolitiker übernehmen.

War der Satz von Angela Merkel »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!« demagogisch und gefährlich?

Das war Verängstigungsrhetorik. Auch diese Dummheit, das Schicksal der Europäischen Union an Griechenland zu koppeln … Griechenland ist gescheitert: Arbeitslosigkeit, Einbruch der Wirtschaftsleistung, Verarmung der Mittelschicht. Chaos. Italien ist zum Beispiel in einer viel besseren Situation, es gibt viel mehr Reserven im Land, während Griechenland sogar noch versteckt Schulden hat.

Ökonomisch gebe ich Ihnen völlig recht, aber ist das politische Signal, das von einem Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone ausginge, nicht tatsächlich gefährlich?

Nein, wieso? Sie bleiben in der Europäischen Union, können ihren eigenen Weg wählen. Mag sein, dass ein paar Banken wackeln, die wir dann retten müssen. Aber dadurch haben zumindest erst mal die Eigentümer die Verluste geschluckt. Wenn es dann für das System schwierig wird, muss natürlich eingegriffen werden, aber man muss ja nicht jede Bank mit Lehman Brothers vergleichen. Da wusste man noch nicht, wie die Akteure agieren. Diese ganze Rhetorik um den Flächenbrand halte ich für vorgeschoben.

Weiß es die Politik nicht besser oder warum wird so an der bestehenden Eurozone festgehalten?

Also für Politiker ist das eine profitable Situation, die können sich als Retter positionieren. Schäuble gefällt sich als Krisenmanager. Maria Fekter hat wahrscheinlich auch Spaß dran gehabt. Da gibt es starke Anreize, dieses Spiel zu spielen. Die Finanzbranche und die Großindustrie wollen das System natürlich auch behalten, aber das schadet dem Mittelstand. Es wird alles gerettet und wenn das nicht mehr hilft, dann kommt Krieg. »Der Euro hat den Frieden gesichert«, ich weiß nicht, wie man die Frechheit haben kann, solchen Quatsch zu behaupten.

Dahinter steckt die Idee, dass Nationen, die miteinander handeln, nicht gegeneinander Krieg führen.

Der Engländer Norman Angell hat 1910 »The Great Illusion« geschrieben und behauptet, dass England so viele Investments in Deutschland hat und umgekehrt, dass ein Krieg völlig unmöglich ist. Wir wissen alle, welcher Krieg 1914 dann begonnen hat. Und es stimmt ja nicht. Wir haben auch ohne den Euro gehandelt, hatten ein Währungssystem mit festgelegten Wechselkursen, das im Zweifel aber anpassbar war. Das war genau das richtige Maß an Flexibilität.

Ich sehe den Punkt, dass das damalige System gut weiter funktioniert hätte. Ist aus heutiger Sicht eine Rückkehr dazu aber noch sinnvoll?

Den Übergangspfad sehe ich derzeit nicht, aber wenn wir das Dogma aufgeben, dass auch das schwächste Land drinnen bleibt, dann gibt es Chancen auf ein System, das atmet.

Sie haben die Menschen, die von der Krise profitieren, schon angesprochen. Sie selbst gehören auch dazu …

Klar.

Sie treten als »der Crash-Prophet« in den Medien auf, verkaufen Ihre Bücher und machen damit für Ihren Anlagefonds Werbung. Wie gehen Sie mit dieser eigentlich absurden Situation um, dass Sie von der Krise profitieren?

Erst mal versuche ich, die Dinge beim Namen zu nennen. Mit dem Titel als Crash-Prophet habe ich so meine Probleme, aber ich kann den Medien ja nicht vorschreiben, wie sie mich nennen sollen. Natürlich freue ich mich, dass es jetzt läuft, wie es läuft. Ich habe lange mit dieser Crash-Prognose gewartet und das damals sehr genau begründet. Seit 1999 bin ich vor allem Finanzpublizist, seit 2008 haben wir den eigenen Fonds, der im Wesentlichen auf Aktien aufbaut. Die unternehmerische Aktivität wäre nicht da, wo sie ist, wenn ich von 1999 bis 2005 nicht sechs knüppelharte Jahre gehabt hätte. Eine Insolvenz und mehrere harte juristische Auseinandersetzungen. Die Crash-Prognose war natürlich ein Turbo-Beschleuniger, aber wenn keine Substanz da wäre, würde das nicht funktionieren.

Womit verbringen Sie in etwa wie viel Zeit? Sie sind ja Universitätsprofessor, Unternehmer, und dann gibt es den Medienexperten.

Zuerst kommen meine Kinder. Das ist ganz wichtig, zwei Tage die Woche und die halben Ferien. In der ganzen Zeit habe ich immer versucht das durchzuhalten. Die Lehre ist im Moment sehr wenig, die Professur in Worms ist ruhend gestellt. Es ist daher wirklich nur noch eine Viertelstelle hier in Graz, das sind im Jahr etwa zehn Tage. Dazu kommen 60 bis 70 Vorträge. Das Fondsmanagement ist gar nicht so viel. Der Fonds hat ja gut funktioniert, bis vor einem Jahr hab ich das noch selber gemacht, jetzt habe ich dafür ein Team. Aber auch das müssen Sie anleiten und trainieren.

Und wo kommt finanziell am meisten heraus?

Das ist komplex. Meine Vorträge waren ein schöner Nebenverdienst, da gibt es schon ordentliche Honorare. Inzwischen mache ich insgesamt weniger Vorträge, dafür mehr ehrenamtlich, weil die Bürger ja Aufklärungsbedarf haben. Ich wollte auch nicht als Seminar- und Vortragsreisender leben. Die finanzielle Basis bietet der Finanzverlag. Darüber hinaus werfen die Fondstätigkeiten immer wieder etwas ab, dieses Jahr sogar recht ordentlich, aber bisher ist der Kostenapparat parallel mit den Umsätzen gewachsen.
Max Otte

Mich hat nämlich interessiert, ob Sie schon zu denjenigen gehören, die aus Geld mehr Geld machen und nicht mehr produktiv sind. Das kritisieren Sie ja auch selber.

Dieser Scheitelpunkt ist bei mir bald erreicht. Die Fonds entwickeln sich durch meine Bekanntheit natürlich sehr gut. Was ich mache, ist »Value-Investing«, da habe ich moralisch überhaupt keine Probleme: Ich kaufe Aktien, wenn keiner sie haben will, und verkaufe sie wieder, wenn alle sie haben wollen. Ich handle nicht mit Derivaten, sondern nur mit Produktivvermögen. Ich hätte nichts gegen eine Finanztransaktionssteuer. Das würde diese volatilen Märkte etwas dämpfen, weil dann zumindest der Blitzhandel eingeschränkt wird.

Aber Sie könnten von Ihrem Finanzeinkommen inzwischen leben?

Ja. Und ich zahle auf meine Gewinne nur 25 Prozent Kapitalertragssteuer. Sie müssen für Ihr Arbeitseinkommen etwas mehr zahlen. Das ist doch total komisch. Und ich bin natürlich sehr dafür, dass sich das ändern muss und Arbeit geringer besteuert wird.

Sie sind in kein politisches Lager einzuordnen, bedienen sich rhetorisch von allen: bei der linken Sahra Wagenknecht und bei Früh-Nazi Oswald Spengler …

… der sich aber den Nazis entzogen hat. Er ist natürlich sehr konservativ, aber als Goebbels ihn haben wollte, hat er sich verweigert.

Ergibt sich diese Polarisierung von selbst oder spielen Sie dabei mit den Medien?

Das ist ein tiefes weltanschauliches Fundament, das ich habe. Ich würde es als kontinentaleuropäisch-deutsch-österreichisch-schweizerisches Modell bezeichnen …

Nicht amerikanisch?

Nein, genau das Gegenmodell. Das ist tief in mir drin und das ist das, was ich wiederentdeckt habe.

Sie wären aufgrund Ihrer beruflichen Erfahrungen ein idealer Quereinsteiger in die Politik. Sie kennen die Finanzwirtschaft, die Privatwirtschaft, haben an der Umstrukturierung des deutschen Wirtschaftsministeriums mitgearbeitet. Haben Sie noch politische Ambitionen?

Nein, Politiker zu werden ist inzwischen ausgeschlossen. Ich wollte das immer machen, mein Vater war ein extrem engagierter CDU-Kommunalpolitiker. Aber der Spielraum ist heute so klein und man wird so schnell mit Dreck beworfen. Da laufen so viele kleine Charaktere herum, man hat gar keine Chance. Und in diesem Meinungsklima habe ich keine Lust, als Nonkonformist in der Politik etwas zu machen. Es ist deprimierend, aber ich glaube, ich kann so mehr für die Welt arbeiten, die ich mir vorstelle.

Herr Otte, vielen Dank für das Gespräch.

Max Otte wurde 1964 in Plettenberg bei Dortmund geboren. Nach einem betriebs- und volkswirtschaftlichen Studium in Köln folgte 1989 das Doktorat an der Universität Princeton, gleichzeitig war er in zahlreichen Firmen der Privatwirtschaft tätig. 2000 ging Otte ein Joint Venture mit der Freenet AG ein, das aber mit dem Platzen der »Dot-Com-Blase« 2002 scheiterte. Parallel gründete er eine Finanzberatung für Privatkunden, die seit 2008 auch zwei erfolgreiche Fonds führt. Seit 2011 lehrt Otte in Graz Unternehmensführung. Der großen Öffentlichkeit ist er durch die 2006 in »Der Crash kommt« veröffentlichte Vorhersage der Finanzkrise bekannt.