michaelthurm

Europa wählt sich ab

Der folgende Kommentar ist Auftakt zu einer Fazit-Serie anlässlich der Europawahl 2014. Bis Mai wollen wir alle EU-Länder portraitieren.

Europa wählt sich ab

Weder bei Wählern noch bei Politikern ist es so wirklich angekommen: In fünf Monaten sind Europawahlen. Und sie könnten zu einem Desaster für all jene werden, die in der Europäischen Union noch immer ein glanzvolles Zukunftsprojekt sehen.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich ist die oberste Ebene der Politik damit beschäftigt, sich selbst neu zu finden. Das Wahlergebnis hat in beiden Ländern eine große Koalition auf den Weg gebracht und nun versucht jeder, neben dem Besten fürs Land auch das Beste für sich und seine Partei durchzusetzen. Das kann, so sind sich viele einig, noch bis Weihnachten dauern. Und vorher wird es bei den europapolitischen Positionen und Personen kaum Regungen geben.
Dabei ist es die erste Europawahl nach Ausbruch der Krise und es geht um viel. Bei der letzten Wahl 2009 war die Eurokrise noch nicht in ihrer durchschlagenden Dimension zu erkennen. Diesmal geht es vor allem darum, welche Bedeutung die EU künftig im Verhältnis zu den einzelnen Nationalstaaten haben wird. Wer trifft die wichtigen Entscheidungen? In der politischen Elite gilt allgemeiner Konsens, »die Integration zu vertiefen«, »mehr Europa zu wagen« – das heißt stärkere Regulierung, deutlichere Eingriffe in Budget- und Steuerhoheit und weniger Subsidiarität. Also weniger Macht für die einzelnen Nationalstaaten, mehr Macht bei der EU, vor allem bei EU-Kommission und Europäischem Rat, dem Zusammenschluss der einzelnen Regierungschefs.
Von den optimistischen Grünen über die verwaltenden Parteien der Mitte bis zu den positivistisch-kritischen Liberalen, die es in vielen Ländern und seit der letzten Wahl auch im österreichischen Nationalrat gibt, sagen alle »ja« zu mehr Europa. Änderungsbedarf sehen wenige, es spießt sich lediglich an der Frage, wie bestimmte Regulierungen (vor allem für den Finanzmarkt) durchgeführt werden. Doch trotz der höheren Absichten dieser Parteien, die EU zu verbessern, bürgernäher zu machen etc., trotz all dieser löblichen Vorhaben werden diese Parteien die Wahl im Mai verlieren – egal wie viele Prozente sie im Einzelnen gewinnen mögen. Denn die Wahlbeteiligung, die schon bei der letzten Europawahl im Jahr 2009 nur bei 43 Prozent lag, wird noch weiter sinken. Und das hat handfeste Gründe:
1. Schwaches Personal
Es ist zwar keine bewiesene, aber doch eine begründete Hoffnung, dass eine stärkere Personalisierung der europäischen Politik und dem Projekt EU nützen würde. Eine direkt gewählte Kommission (oder zumindest ein direkt gewählter Kommissionspräsident) steht seit Jahren zur Diskussion. Politische Realität sind aber der Kompromisskandidat als Kommissionspräsident: Manuel Barroso, Chefdiplomatin Catherine Ashton und der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy. Die beiden letztgenannten EU-Spitzenpolitiker sind fantastische Diplomaten, geschickt darin, Politik in den Hinterzimmern zu gestalten und zu verhandeln, aber leider völlige Fehlbesetzungen für die wichtige Aufgabe, die europäische Politik zu repräsentieren und zu erklären. Kurz gesagt: Der Wähler mag sie nicht. Erst recht nicht, weil er sie nicht einmal direkt wählen darf.
Nur einige wenige Ausnahmen haben sich im Europaparlament einen Namen gemacht: Der EU-kritische Nigel Farage, der Großbritanniens Austritt ebenso vehement fordert wie die Abschaffung der gesamten EU-Bürokratie, ist populärer Vertreter derjenigen, die gar keine Vertretung in Brüssel und Straßburg wollen. Der deutsche Martin Schulz hat, seit er 2012 das Amt des Parlamentspräsidenten übernahm, viel an Einfluss und Anerkennung gewonnen. Er ist einer der wenigen, der sich noch traut, seinen Glauben an die Institutionen der EU überzeugend zu formulieren.
Die vielen Abgeordneten des Parlaments kämpfen mit einem Mangel an medialer Aufmerksamkeit und dem eigentlich ja erfreulichen Phänomen, dass es auf europäischer Ebene fast nie ein Abgeordneter, eine Fraktion oder ein Land allein ist, das eine Initiative durchsetzen kann. Jeder politische Erfolg ist der Erfolg eines Gruppenprozesses. Das ist sinnvoll und verständlich, schmälert in der medialen Logik aber die Aufmerksamkeit für Themen und Initiatoren. Viele andere Proponenten wirken trotz prominenter Ämter schwach: Zahlreiche Kommissare sind vor allem in ihrer Funktion, damit sie auf nationaler Ebene nicht mehr stören und trotzdem versorgt sind (z.B. Johannes Hahn und Günther Oettinger), und auch dem Kommissionspräsidenten mangelt es an Überzeugungskraft und erkennbarem Gestaltungswillen. In Summe ist da viel Schatten und wenig Licht
2. Fehlende Identifikation
Die europäische Identität ist nur in den Köpfen der Elite, der Globalisierungsgewinner und der Erasmus-Studenten eine Bereicherung zur eigenen nationalen Identität. Viele nehmen die EU (und mit ihr auch viel zu oft Europa) als Bedrohung wahr. Sie sehen medial gehypte Verbote im täglichen Leben, sie sehen ihre eigenen Regierungen im großen Machtkarussell der EU zu oft untergehen. Der Einfluss auf das Geschehen schwindet, nicht einmal die Zusammensetzung der Regierung lässt sich mit der Europawahl direkt bestimmen. Dieses demokratische Defizit wird von vielen nicht im Detail durchschaut, in der Konsequenz aber meist sehr richtig eingeschätzt.
Zu selten ist Europa eine willkommene Ergänzung zur nationalen Identität und Souveränität. Die Betroffenen haben kaum eine Möglichkeit, sich an entscheidender Stelle demokratisch zu wehren. Die Einführung der Bürgerbefragung ist gut gemeint und löblich, ist aber nur für NGOs und Gewerkschaften eine Option. Für die große Masse der unorganisierten Männer und Frauen schlagen zuallererst direkt ökonomische Auswirkungen durch. Und die sind vor allem im Süden Europas im Moment negativ. Die höheren Löhne, die der Euro mit sich gebracht hat, bezahlen heute viel zu viele mit Arbeitslosigkeit, während in Mitteleuropa bei sinkenden Reallöhnen trotz wachsender Wirtschaft zumindest die Arbeitsplätze gesichert wurden. Streng ökonomisch werden also die Niedriglöhner am hiesigen Fließband gegen die Arbeitslosen im Süden ausgespielt. Auch das wird im Detail nicht von allen Betroffenen nachvollzogen, wohl aber – unterstützt von einer mitunter vulgär EU-kritischen Presse – gespürt. Und auch da gilt: Es mangelt an Möglichkeiten, darauf mittels seines Stimmzettels Einfluss zu nehmen. Die Zahl und Bedeutung der griechischen Abgeordneten im Europaparlament ist nicht irrelevant, ihr Einfluss auf die europäische Politik, die in Griechenland gemacht wird, allerdings minimal.

Cui bono – wem nützt es?

Das Wahlergebnis wird wahrscheinlich den Euro-kritischen Parteien von ganz links und ganz rechts nutzen, viel mehr noch ihren Ideen. Ein Europäisches Parlament, das nur von 40 Prozent der Wahlberechtigten gewählt wird, und eine Kommission, die nach wie vor von Regierungschefs bestimmt wird, können daraus nur eine minimale Machtlegitimation ableiten.
Die Bereitschaft der Nord- und Mitteleuropäer zur finanziellen Solidarität ist gering bis nicht vorhanden, die wirtschaftstheoretische Einsicht im Norden, dass der eigene Wohlstand auch auf den Exporten in den Süden beruht, kaum verbreitet. Deutschland ist entrüstet, dass sich irgendwer traut den Exportüberschuss zu kritisieren. Gleichzeitig ist die Bereitschaft der Südeuropäer, sich auf diese Art und Weise helfen zu lassen – politische und wirtschaftliche Entmündigung –, auf schwache Eliten beschränkt. Auftritte des spanischen Premiers Mariano Rajoy und des italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta in Deutschland, bei denen diese Seite an Seite mit den Repräsentanten der Geberländer die Notwendigkeit von Eurohilfen erläutern, haben äußersten Seltenheitswert. Besuche in Österreich finden – wenn überhaupt – nur in den Kreisen geladener Gäste statt. Ist das noch Feigheit oder hat das schon Methode?

Wohin mit der EU?

Ich bin im Kern von der europäischen Idee überzeugt: Sie eint einen ebenso vielfältigen wie beeindruckenden Kulturraum, die EU könnte zum weltweiten Technologieführer werden, sie ist das denkbar beste Vorbild für demokratische Teilhabe, persönliche Freiheit und Solidarität über einen solch langen Zeitraum und bei solch unterschiedlichen Mitgliedern.
Gleichzeitig sind die Schwächen offensichtlich: der zu früh eingeführte Euro, der Länder wie Griechenland in der finanziellen Abhängigkeit hält, die viel zu gut gemeinten Regulierungstendenzen, aus denen heraus die EU-Kommission immer wieder Kompromisse zwischen Lobbys und Bürgerinteressen in Gesetze zu schreiben versucht, die besser nicht geschrieben werden.
Eine europäische Wirtschafts- und Freihandelszone mit gemeinsamer Währung verlangt aber überstaatliche Eingriffe in die Souveränität der einzelnen Länder, die zur derzeitigen Misslage geführt hat. Dafür sind die meisten Europäer noch nicht bereit. Ebenso wenig für das Tempo der Erweiterung. So gut gemeint die Pläne und Visionen der europäischen Spitzenpolitiker sind, sie scheitern an der eigenen Größe und dem Glauben, diese Größe kleinregulieren zu können. Ja, der militärische Frieden zwischen den Mitgliedsländern wurde in einer Art und Weise gesichert, die nach dem Zweiten Weltkrieg kaum zu glauben war. Aber in den letzten zwanzig Jahren wurde dafür der soziale Friede innerhalb der Union fahrlässig gefährdet.
Fünf Fazit-Ausgaben bleiben bis zur Wahl. Das sind fünf Ausgaben, in denen wir die Länder, in denen gewählt wird, vorstellen. Der Zusammenschluss der europäischen Nationalstaaten in einer politischen und wirtschaftlichen Union kann nur gelingen, wenn der einzelne Staat zum Projekt passt und sich nicht erst anpassen muss. Um zu zeigen, wie wichtig, wie vielfältig und vor allem wie eigensinnig die derzeitigen Mitgliedsländer der Europäischen Union sind, stellen wir in den Ausgaben bis zur Wahl jedes Land mit einem speziellen Fokus vor. Wir werden Verbindendes und Trennendes beschreiben. Wir werden versuchen, die politischen, ökonomischen oder kulturellen Bedeutsamkeiten herauszuarbeiten. Dabei werden wir immer unvollständig und wohl auch einseitig porträtieren. Hoffentlich aber so, dass Sie am Ende dieser Serie ein Bild davon haben, was zur Wahl steht: nämlich das größte und ungewöhnlichste politische Bündnis unserer Zeit. Vielfältiger als das Römische Reich, diversifizierter als das britische Commonwealth. In Summe: alles andere als eine natürlich gewachsene Einheit – deren Potenzial im globalen Zusammenhang natürlich enorm ist, aber eben immer nur so klein wie die Bereitschaft ihrer Mitglieder, nicht wie der Wille der Eliten.