michaelthurm

Die Schule der Migranten

Die Reportage ist leicht gekürzt und unter dem Titel „Mission:Mischen“ erschienen in Falter: Nr. 45/2010 S. 40f
Die Karten werden gemischt, dann darf jeder Schüler eine ziehen. „Hinlegen und nicht anschauen!“ Das ist keine leichte Ãœbung für Gerhard, dessen blonde Haare vom Schlaf noch zerzaust sind. Er ist schon am frühen Morgen besonders neugierig. Auf das Signal von Ruth Hoffmann halten er und seine Klassenkameraden von der 3a die Karten in die Luft. Ihre freundliche Deutsch-Lehrerin ist bereits seit 27 Jahren an der Albert-Schweitzer-Schule und hat schon einige Schulversuche mitgemacht: Ganztagsschule, Tagesheim und jetzt die Neue Mittelschule.
Vor drei Jahren wurden die Türschilder der ehemaligen Hauptschule am Grieskai ausgetauscht, das alte System kennen die Schüler der 3. Klasse schon nicht mehr. Sie sind die Pioniere der Neuen Mittelschule (NMS) Albert Schweitzer. Hier soll sich zeigen, ob eine Schule auch dann alle Kinder fÖrdern kann, wenn die Mehrheit Migranten sind: Laut Stadtschulamt ist für siebzig Prozent der Albert Schweitzer-Schüler Deutsch nicht die Muttersprache.
Es sind vor allem Türken, Albaner und Bosnier, die nach der Jugoslawienkrise und der EU-Osterweiterung in das Gries-Viertel gezogen sind. Die Neue Mittelschule muss hier nicht nur Kinder mit unterschiedlichen Leistungen, sondern auch mit unterschiedlichen Sprachen zusammenbringen. Der Bund und das Land Steiermark finanzieren jeweils  drei zusätzliche Stunden pro Klasse – und damit indirekt mehr Personal. Dafür muss themenzentriert und „in offenen Unterrichtsformen“ gelehrt werden. Das Miteinander von Einheimischen und den so genannten „bi-lingualen Schülern“ habe aber auch vorher schon gut funktioniert, so Direktor Reinhard Wolf. „Aber jetzt haben wir wirklich ausreichend Ressourcen, um auf alle Situationen einzugehen. Wir haben mehr Zeit für den einzelnen Schüler.“
Bevor die 3a in den Unterricht startet, werden Gruppen gebildet, je nach Farben der UNO-Karten. Gerhard wedelt ungeduldig mit seiner roten Karte. Die blaue Gruppe läuft ins Biozimmer, die gelbe zu Englisch und die grüne ins Nachbarzimmer, zur 3b. Rot bleibt da und bekommt noch Gesellschaft von einer Delegation aus der Nachbarklasse: Burak, Javad und Rumeysa. „In der 3b sitzt niemand mit Deutsch als Muttersprache“, erklärt Hoffmann, in Gerhards Klasse sind es etwa zwei Drittel: „Deshalb wird oft durchgemischt.“ Erst die Karten, dann die Kinder. Und dann beginnt der Unterricht.
Deutsch
Vier Kisten stehen auf der Fensterbank. Darin sind die Aufgaben für die nächsten sechzig Minuten, die Kinder kÖnnen sich selbst aussuchen, womit sie beginnen. Von einem bis zu drei Schwierigkeitspunkten gibt es Aufgaben zu bewältigen, bis zum Ende der Stunde soll jeder auf drei Punkte kommen.
Nur Marion, eine der Österreicherinnen, beginnt mit der Drei-Punkte-Aufgabe, alle anderen mit der einfachen Würfelgeschichte, bei der eine Halloween-Geschichte aus Halbsätzen zusammengefügt werden muss. Das Fest steht kurz bevor und ist heute Tagesthema. Diese  Organisation um ein zentrales Thema ist Bestandteil des NMS-Konzeptes und hilft Ruth Hoffmann, die Kinder zu motivieren.
Lesen und Schreiben ist hier für viele ein Problem, ob Migrationshintergrund oder nicht. „Wenn wir die Kinder aus der Volksschule bekommen, haben die oft schon Schulfrust“, erzählt Hoffmann. Viele kÖnnen nur schlecht lesen und schreiben. „Aber mit zehn Schülern ist es halt leichter als mit zwanzig. Jetzt kann ich mich dazusetzen, wenn jemand nicht zurechtkommt.“ Für Schüler, die noch gar kein Deutsch sprechen, gibt es noch einmal zusätzlichen Einzelunterricht.
Wer hier eigentlich „Ausländer“ ist, lässt sich gar nicht so einfach feststellen. Nach seinem Pass und der Heimat seiner Eltern ist Gerhard Rumäne, geboren wurde er aber in Österreich. Für Hoffmann zählt er schon zu den Muttersprachlern, aber auch er schnappt sich die leichte Würfelgeschichte; vor allem weil ihm das Würfeln Spaß macht.
Am Ende der Stunde hat jeder seine Halloween-Geschichte geschrieben und vorgelesen; verstecken konnte sich in der kleinen Gruppe niemand. „In ihrer normalen Umgebung sind die meisten mit ihrem Deutsch Superstars“, sagt Ruth Hoffmann. „Aber es ist wichtig, dass sie sehen, was andere kÖnnen, sonst fehlt der Anreiz, etwas zu leisten.“ Sie ist froh, nicht mehr wie früher in getrennten Leistungsgruppen zu unterrichten. „Umgekehrt merken wir auch nicht, dass sich die Stärkeren langsamer entwickeln würden“, betont der Direktor. Das mag auch daran liegen, dass hier noch keine AHS-Schüler hier lernen.
Biologie
Die rote Gruppe von Gerhard und Burak hat den Raum gewechselt, auf dem Tisch entdecken sie verschiedene Kürbisse. Zuerst interessieren sie sich eher für deren Flugtauglichkeit, aber Biolehrerin Michaela Bannholzer muss nur kurz laut werden, um ihr Unterrichtsmaterial zu retten. Drei Lehrer kümmern sich jetzt um die kleine Gruppe und auch hier wird an Stationen gearbeitet. Insgesamt sind an der Schule dreißig Lehrer beschäftigt – für 200 Schüler.
Thomas Papst unterrichtet Informatik, heute gemeinsam mit Biolehrerin Bannholzer. Dem Tagesthema entsprechend dreht sich der Unterricht um Kürbisse: Anhand eines Fragebogens sollen die Kinder etwas über das Halloween-Gewächs lernen. Und als Gerhard hÖrt, dass einer der Kürbisse gezeichnet werden muss, zeigt er gleich als Erster auf – wie immer.
Am Ende der Stunde werden noch die Computer eingeschaltet. Für jene, die schneller waren, warten Zusatzfragen. „Wie viele Sorten Kürbisse gibt es?“ Gerhard tippt die Frage in die Google-Suchzeile: „Wie fiele (!) Sorten Kürbisse gibt es?“ Er scannt die Ergebnisse und stÖßt auf „31“. Es waren nur leider 31 Delfinarten, die Google ihm geliefert hat. Dann stÖßt er aber doch noch auf eine Zeile: „Es gibt über 350 Sorten Kürbisse.“
Burak ist noch nicht so weit. Der Klassensprecher der 3b redet zwar fehlerfrei, aber beim Lesen hapert es. Gerade lässt er sich von Javad zeigen, wo er die Antworten in seinem Biobuch findet. Javad ist seit drei Jahren in Graz und kommt aus Afghanistan, sein Deutsch ist noch unsicher. Deshalb zeigt er seinem türkischen Freund lieber, wo die Antwort steht, als sie zu erklären. Nur langsam lesen sich die beiden durch die kurzen Absätze. Niemand ermahnt sie dabei, dass sie schneller, leiser oder allein arbeiten sollen. Selbstständiges Arbeiten ist erwünscht – und so kommen auch die sie zu ihren Häkchen.
Englisch
„Letztes Jahr war uns langweilig, da haben wir Eier gekauft und auf Fenster geworfen.“ Burak beschäftigt sich gerade mehr mit der Frage, was er wohl dieses Jahr zu Halloween anstellen kÖnnte, als mit dem traditionellen „Bobbing the Apple“, von dem „Miss Mandy“ erzählt. Sie kommt aus Schottland und ist auch Migrantin, und nachdem sie über Halloween-Verkleidungen gesprochen hat, meldet sich Burak zum freiwilligen Vokabeltest. Dabei wird er oft unterbrochen, weil die Englischlehrerin eine falsche Vokabel aus der Tiefe des Klassenzimmers aufgeschnappt hat und korrigiert. Für die Lehrer ist das System der Neuen Mittelschule schwieriger: Sie müssen ständig neu justieren, wer gerade Aufmerksamkeit und Betreuung braucht; immer neu überlegen, wie das jeweilige Thema im „offenen Unterricht“ am besten zu vermitteln wäre. Das Skriptum vom letzten Jahr hilft da weniger als noch zu Hauptschulzeiten. „Deshalb gibt es für die Lehrer ständig Weiterbildungen“, erklärt Direktor Wolf. „Es gibt eine hohe Bereitschaft, sich auf die Situation einzulassen.“ Auch von den drei AHS-Lehrern, die seit der Umstellung auf die Neue Mittelschule hier unterrichten.
Mathe
Im Matheunterricht wird deutlich, dass auch in einer Neuen Mittelschule noch alte Strukturen weiterleben. Hier stehen die Tische wieder parallel zur Tafel. Die StÖrenfriede sitzen prophylaktisch allein auf der Bank, Gruppenteilung gibt es heute auch nicht. Wer zu schnell ist, muss warten. „Du machst das jetzt noch nicht, sonst hast du ja dann Pause“, schimpft Evelin Binder mit einem flinken Jungen in der ersten Reihe. Er hat sich erlaubt, seine Langeweile damit zu vertreiben, schon mal die nächste Aufgabe zu lÖsen. Die Schwächeren treiben dafür jede Menge Unsinn und werden oft ermahnt. Als die Lehrerin entdeckt, dass Haci die letzten zehn Minuten nichts aufgeschrieben hat, ruft sie ihrem Kollegen zu, er solle ein Minus eintragen. Dieser sitzt vorn am Lehrertisch, bringt sich aber sonst nicht in den Unterricht ein. Der Direktor rechtfertigt den klassischen Frontalunterricht damit, dass „es gerade in Mathe schwierig ist, dass sich die Schüler selbst etwas erarbeiten“.
Sport
Das Wahlpflichtfach kommt wie gerufen. Jeder Schüler konnte sich zwischen Sport,  Naturwissenschaft und Kunst entscheiden. Für Burak geht es heute in die Kletterhalle und zum ersten Mal auf den Hochseilgarten. Knapp 15 Meter über dem Boden haben alle ein bisschen Bammel. Erst klopfen die Schüler noch Sprüche, dann sind sie doch ganz froh, nicht als Erste auf die wackligen Baumstämme klettern zu müssen. Burak und Javad haben sich einen sicheren Platz in der Mitte gesucht. Auf dem Parcours zeigt sich schnell, wer in seiner Freizeit schon mal auf einen Baum gestiegen ist, denn den meisten fehlt jedes Gefühl für den eigenen KÖrper – egal, ob Migrant oder Österreicher. Wer mit seinen Eltern noch nie im Wald war, tut sich schwer, auf einem Stamm zu balancieren. Ebenso wie man sich schwertut, ein Buch zu lesen, wenn es daheim nicht vorgelebt wird. Für Rektor Wolf ist es oft schwierig, die Eltern überhaupt zu erreichen: „Für viele hat Bildung einen geringen Stellenwert. Und vor allem Asylbewerber sind froh, wenn sie erst einmal zur Ruhe kommen kÖnnen.“
Physik
Zur gleichen Zeit ist Gerhard unruhig. Er hat Naturwissenschaften gewählt und jetzt bei Siegfried Seidler Unterricht. Der steht mit einem Kleiderbügel vor dem Tisch, an dem zwei Bindfäden befestigt sind – hält man sich die ans Trommelfell und schlägt den Bügel an, „dann hÖrt man die Pummerin schlagen“. Aber nur mühsam kann er seine Gruppe begeistern. Die drei Mädchen aus dem ehemaligen Jugoslawien kichern ständig und ärgern Gerhard. „Ich weiß die Antwort“, schnellt seine Hand nach oben, noch bevor Seidler die Frage überhaupt  aussprechen konnte. „Nicht schon wieder!“, sagt Seidler und lacht. „Doch, schon wieder“, entgegnet Gerhard trotzig. Ihm geht das gerade alles viel zu langsam. Und bis jetzt, so bedauert er, finde auch nur ein Drittel im „offenen Unterricht“ statt. Dabei wurde heute vor allem auf die Schwächeren geachtet; Gerhard darf  hoffen, dass die Karten bald wieder gemischt werden und der Unterricht auch für ihn zu einer Herausforderung wird.